Mittwoch, 20. Oktober 2010

27.9. // Waterworld


Am Morgen gings mir etwas besser. Ich hatte noch mit meiner Schwester und Mr Autumnsmile telefoniert (auf die Telefonrechnung freue ich mich übrigens schon sehr), mein Kopf fühlte sich wieder normal an, mein Magen nach der Schokoladenorgie auch.
Es war ein bisschen wie nach nem K.O.-Schlag, nach einem Filmriss wieder auf die Beine zu kommen. Ich musste bis 11 Uhr aus dem Zimmer raus sein. Die Nacht hatte ein ganz schönes Loch in meine Urlaubskasse gerissen. Wenn man bedenkt, dass ich für die Zeltplätze nur etwa 100 SEK bezahlt habe und ansonsten draußen geschlafen hab... sind 280 schon ziemlich heftig. Egal, es musste weiter gehen, mir blieb ja schließlich nichts anderes übrig. Obwohl Sightseeing mir jetzt völlig absurd erschien.


Draußen lag ein verhangenes Schweden. Mein Herz blutete.


Ich entschied mich dafür auf einem der anderen ausgewiesenen Radwege in Halland zu fahren, dem Cykelspåret Hallands inland. Wenn man schon die Chance hat... Und große Lust auf endloses Kartenlesen und Streckenplanen hatte ich eh nicht. Bis Åsa verlaufen beide Radwege identisch, dann folgt der Ginstleden der Küstenlinie nach Süden, ich fuhr landeinwärts.



Ich war immer noch ein bisschen neben mir und verpennte ab und zu mal ne Abbiegung, aber im Großen und Ganzen kam ich gut zurecht. Zumindest mit der Streckenfindung. Die Strecke an sich... nun ja. Sehr bergig, extrem anstrengend. Okay, die wirklichen Mountainbiker werden sich totlachen über mich, aber ich bin ja nun kein Extremsportler und das Gewicht des Rades hat mich an diesem Tag ziemlich fertig gemacht. Ich hatte wirklich Panik, dass ich es nicht rechtzeitig zurück zur Fähre schaffe. Hab nur verhältnismäßig wenige Kilometer zurückgelegt.


Am See Fävren lag ein Boot im Wasser, der Bootssteg abgerissen, treibend, schlug immer wieder gegen den Rumpf. Genauso fühlte ich mich an diesem Tag: losgerissen, ohne Halt, ausgeliefert. Alle Fotos dieses Tages, die ich wie benebelt schoss, sind von Seen. Tiefes, schwarzes, unendliches Wasser. Darüber aufgetürmt ein zorniger Himmel.


Ich war gelandet in (verglichen mit der Küstenregion) dünn besiedeltem Gebiet. Keine größeren Orte, keine Menschen, es kam vor, dass ich ne Stunde gefahren bin ohne irgendwen zu sehen. Die Ortschaften wie ausgestorben. The middle of nowhere. Seen, dichte Wälder, keine Zeltplätze. Musste wohl oder über draußen schlafen. An diesem Tag hab ich bestimmt ne Stunde mit der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz verbracht. Hab idyllische Wiesen und lichte Wälder gefunden, die bei näherem Betrachten aber unter Wasser standen. Sumpfwälder. An diesem Tag kam ich mir wirklich vor wie in einem Horrorfilm. Die Natur, die dich nachts verschlingt, sobald du die Augen geschlossen hast. Moosboden, der sich auftut und dich verschluckt. Wurzeln stachliger Bäume, die dich in die Tiefe ziehen.
Es ist krass, wie sehr das Innere das Äußere verändert. Schweden wirkte komplett verändert. Feindlich. Verschlossen. Der Himmel war den ganzen Tag grau. Die Berge schienen wirklich gegen mich zu arbeiten. Die Seen, die weich eingebettet zwischen den Bäumen lagen, waren beängstigend schwarz. Die lang ersehnte Stille machte mir plötzlich Angst. Mitten in der Einöde lagen verlassene, verfallene Holzhütten, Hexenhäuschen aus einem Märchenfilm für Erwachsene, Greta im Horrormärchenwald. Ich hätte alles dafür gegeben an diesem Tag auf nem voll besetzten Campingplatz schlafen zu können.
Statt dessen wurde es dunkel und ich hatte immer noch nichts Passendes gefunden. So schlug ich mein Lager letztendlich in einem fürchterlich dunklen Wald auf. Unendlich hohe Bäume, nasser Moosboden. So, nun war es wohl soweit, ich würde mir zum ersten Mal auf der Tour nachts vor Angst einmachen. Spitze.


Mal ne amtliche Erkenntnis über mich selbst: Ich bin zwar gerne für mich, aber ich mag es, wenn spürbar Menschen um mich herum sind, sie sollen mich nur in Ruhe lassen. Ich liebe Großstadtgeräusche, kann bei jedem Straßenlärm schlafen, und ich liebe die Anonymität. Ich habe 2,5 Jahre in nem Dorf gewohnt und schlimmer gehts echt gar nicht. Mag sein, dass sich das im Lauf des Lebens wieder ändert, aber momentan ist es eben so. Ich wusste das zwar irgendwie vorher schon, aber hier hatte ich nun den eindeutigen, schwedisch-manifestierten Beweis.

Mir fällt jetzt auf, wie ich so erneut im Tourtagebuch blätter, dass ich an den Tagen schon wieder ziemlich tief in nem Loch gesteckt habe. So gewisse Dinge kamen in meinem Köpfchen gar nicht an, wie z.B. die Schweden-SMS am Abend zuvor. Ich saß da unten im Dunkeln und konnte beim besten Willen kein Licht sehen. An diesem Tag ging es schon wieder ein bisschen besser. Und als ich dann bibbernd in meinem kleinen Zeltchen lag: ein Geschenk des Himmels. Er vermisst mich. Hö? Was?? *ungläubig blinzl* Nein, er glaubt nicht, dass ich mir einpinkeln werde, schließlich sei ich "awsome and east-german and strong ;) ". Äh ... ja. Er wünschte er wäre mit mir in diesem dunklen, furchteinflößenden Wald. Nun, nur dass er dann gar nicht mehr furchteinflößend wäre... Aber so richtig glauben konnte ich das nicht. Ich hab schon so viel leeres Gelaber gehört...

Tageskilometer: 72
insgesamt: 640

Zeit auf dem Rad: 4:29

Ø 16,1 km/h

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